Forschung & Lehre 09/2023

668 FORSCHUNG Forschung & Lehre 9|23 L„Die Vermessung der Welt“ unternahmen die berühmten Wissenschaftler Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß in Daniel Kehlmanns gleichnamigem Roman auf ihre eigene Weise. Heute, etwa 200 Jahre später, würden diese Riesen der Wissenschaft und deren Leistung selbst vermessen. Mit der Scientometrie würde Maß genommen – und beide wohlmöglich für zu klein befunden. Aus Giganten würden Zwerge der Wissenschaft. Denn die Aktivität und Produktivität würde gemessen in Impact-Faktoren, H-Indices, Altmetrics und Drittmitteleinwerbung. Jetzt hat ein neuer Index zur Vermessung wissenschaftlicher Leistung Aufsehen erregt: Der CD-Index, C steht für „Consolidation“ und D für „Disruption“. Beide Begriffe stammen aus der Ökonomie. Veröffentlichungen und Patente zwischen 1945 und 2010 wurden danach ausgewertet, wie „disruptiv“ die Wissenschaft sei. Das ernüchternde Ergebnis: auf allen untersuchten Gebieten wie der Physik, den Lebenswissenschaften oder Sozialwissenschaften sei der CD-Index drastisch gesunken, um bis zu 90 Prozent. Das alarmiert Journalismus, Wissenschaftsmanagement und Politik: Wo bleibt der nächste Einstein? Müssen wir unser Fördersystem überdenken? Haben wir zu viel Geld in zu wenig Ergebnis gesteckt? Aber was soll „disruptive“ Wissenschaft überhaupt sein? Durch die Relativitätstheorie ist die klassische Mechanik nicht hinfällig geworden und auch Newton stand nach eigenem Bekunden schon auf den Schultern von Riesen. Watson und Crick haben mit der DNA ein großartiges Strukturmotiv gefunden, die Wissenschaft revolutioniert haben sie damit nicht. Ungesagt bleibt zudem, dass beide das Experimentieren gerne anderen überließen und sich sogar mit fremden Federn geschmückten. Von guter wissenschaftlicher Praxis konnte hier nicht die Rede sein. Und was soll demgegenüber „Consolidation“ in der Wissenschaft bedeuten? In der deutschen Übersetzung wird gleich abwertend von „inkrementeller“ Wissenschaft gesprochen. Die Crispr-Technik oder sogenannte Genschere sei inkrementell, weil die grundlegenden Arbeiten bereits 20 Jahre zurücklägen. Ebenso die Entwicklung der wirksamen Impfstoffe gegen Corona, weil die zugrundeliegende mRNATechnik schon 30 Jahre alt sei. Wenn das „inkrementelle“ Wissenschaft ist: Sollten wir nicht mehr davon haben? Bei genauer Betrachtung wird es die „inkrementelle“ Wissenschaft sein, die wesentlich zur Problemlösung beitragen wird und deshalb ein positives Ansehen verdient. Dies sei anhand vier konkreter Beispiele aus der lesenswerten Agenda 2030 der Vereinten Nationen aufgezeigt. Beispiel: Ernährung Wenn wir heute mit dem Ziel Nr. 2 der UN-Agenda mehr Ernährungssicherheit auf unserem Globus fordern, dann hängt dies entscheidend von einem großtechnischen chemischen Verfahren ab. Im berühmten Haber-Bosch-Prozess wird aus atmosphärischem Stickstoff und Wasserstoff bei hohen Drücken und Temperaturen unter Zuhilfenahme eines eisenhaltigen Katalysators Ammoniak gewonnen. Das bedeutende Chemieverfahren mit einem Produktionsausstoß von mehr als 150 Millionen Tonnen im Jahr 2017 deckt fast die gesamte weltweite Produktion. Ammoniak wird überwiegend für die Herstellung von Düngemitteln verwendet und trägt damit wesentlich zur Ernährung der Weltbevölkerung bei. Die Fixierung von Stickstoff aus der Atmosphäre für die Herstellung von Düngemitteln wurde in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts als „Brot aus der Luft“ gefeiert. Fritz Haber erhielt dafür 1918 den Nobelpreis, Carl Bosch 1932 für die Ent- »Bei genauer Betrachtung wird es die ›inkrementelle‹ Wissenschaft sein, die wesentlich zur Problemlösung beitragen wird.« Kleine Schritte, große Wirkung Ein Plädoyer für „inkrementelle“ Wissenschaft | RALF LUDWIG | Disruptive Forschung kommt öffentlich mit einem lauten Knall daher. Sie wirkt beeindruckend, erfolgreich. Dabei leistet gerade die Forschung in kleinen Schritten, die inkrementelle Forschung, Antworten auf viele gesellschaftlich drängende Fragen. AUTOR Ralf Ludwigist Professor für Physikalische Chemie an der Universität Rostock, Vorsitzender der Bunsen-Gesellschaft und Mitglied im Senat der DFG.

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