Forschung & Lehre 12/2023

12|23 Forschung & Lehre 905 FORSCHUNGSFELDER IM WANDEL Es ist nicht Vermehrung, sondern Verunstaltung der Wissenschaften, wenn man ihre Grenzen ineinander laufen läßt.“ Immanuel Kant warnte vor über 200 Jahren vor allzu viel Grenzüberschreitung – und meinte der Sache nach: Interdisziplinarität. Das hat sich seither verändert. Im „Niemandsland zwischen den verschiedenen anerkannten Disziplinen“ lokalisiert Mitte des 20. Jahrhunderts der Kybernetiker Nobert Wiener „die fruchtbarsten Gebiete der Wissenschaft“. In den 1970er Jahren betrat dann der Begriff der Interdisziplinarität die Bühne. Er wurde vom OECDZentrum für Bildungsforschung und Innovation (CERI), insbesondere vom Physiker Erich Jantsch geprägt. Schnell entfaltete er eine beeindruckende Karriere und wurde populär. Heute ist er en vogue in Wissenschaft und Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Seine Zugkraft ist genauso enorm wie seine Strahlkraft. Wer kann es sich leisten, dem Hype nicht zu folgen? Wer wollte abseits stehen, wenn neoliberale Anreizstrukturen neue Forschungsperspektiven versprechen? Wer verzichtet auf das Label, das Kreativität signalisiert, Innovation verspricht und Mehrwert verkörpert? Merkwürdig ist, dass kaum ein zukunftsrelevanter Begriff so unscharf, unbestimmt, ungeklärt ist; ja der Begriff scheint immer unschärfer zu werden. War mit Interdisziplinarität in den 1970er Jahren noch eine grundlegende Kritik an Bildung, Forschung und Entwicklung und das heißt auch: an Universitäts- und Forschungsinstitutionen, verbunden, ist das Label heute im Mainstream angekommen. Das ist einerseits beeindruckend, andererseits erfordert es, in kritisch-konstruktiver Absicht Klärungen vorzunehmen und Differenzierungen zu ermöglichen – das kann als Aufgabe einer interdisziplinären Philosophie der Interdisziplinarität angesehen werden (Schmidt 2022). Nur durch Reflektion von Interdisziplinarität kann die Genese von neuen interdisziplinären Forschungsfeldern transparent werden sowie gestaltet und gemanagt werden. Defizitdiagnose Interdisziplinarität ist zunächst ein wissenschaftspolitischer Imperativ – im Großen wie im Kleinen: Es ist offenbar die Stunde, das Jahrzehnt, gar das Jahrhundert der Interdisziplinarität! Wer von Interdisziplinarität spricht, will etwas. Der Begriff ist normativ aufgeladen, mitunter gar präskriptiv ausgerichtet. Wissenschaft soll gestaltet werden. Das betrifft auch die Genese von neuen Forschungsfeldern. Wer Interdisziplinarität propagiert, hat also Motive und verfolgt Ziele. Hintergrund ist eine Defizitdiagnose: Die herkömmliche Forschungs- und Bildungslandschaft weise Defizite auf. Sie sei nicht kreativ, dynamisch, innovativ genug. Disziplinäre Grenzen seien zu Forschungs- und Entwicklungsgrenzen geworden, so Jürgen Mittelstraß schon vor 40 Jahren: Die Silos der Disziplinen lähmen. Historisch hingegen war es gerade die funktionale Differenzierung in immer kleinere arbeitsteiligere Einheiten, die das moderne Wissenschafts- und Forschungssystem so erfolgreich machte. Aber die Schattenseite ist heute allzu offenkundig: Wie die disziplinären Wissensfragmente zusammenhängen, wird immer unklarer; das Ganze bleibt ungedacht. Komplexe Probleme in Wissenschaft, aber auch in Gesellschaft können so nicht angegangen werden. Die wissenschaftliche Wissensproduktion weist dazu eine zu hohe Spezialisierung, Fragmentierung, Atomisierung auf, so der Wissenschaftsforscher und Physiker John Ziman: „Knowing everything about nothing“. Der disziplinäre Fachwissenschaftler – ein blinder Experte im entrückten Elfenbeinturm? Motive Der Hintergrund für die Popularität von Interdisziplinarität liegt also in der ambivalenten historischen Entwicklung des Wissenschafts-, Forschungs- und Bildungssystems. Recht besehen war Interdisziplinarität, wie der Begriff in den 1970er Jahren ins Feld geführt wurde, ein Korrektur- und Kompensations-Terminus. Heute rückt die grundlegende Kritik aus dem Fokus, auch wenn pragmatisch Defizite diagnostiziert werden. Die heutigen Motive sind pluraler, ja durchweg heterogener, so dass ungewiss ist, ob von der Interdisziplinarität überhaupt gesprochen werden kann. Es gibt, erstens, nach wie vor wissenschaftsinterne und innerakademische Motive, die in der Tradition der Moderne und der Aufklärung stehen. Wissenschaft ist demnach der Wahrheit verpflichtet. Wenn disziplinäre Grenzen zu Erkenntnisgrenzen geworden sind, wird Interdisziplinarität notwendig, um neue Erkenntnisse zu gewinnen und Erkenntnisfortschritt wieder herzustellen. Interdisziplinarität gilt als ein temporäres Reparaturinstrument. Darüber hinaus wird sie gelegentlich gar als Weg zur Einheit der Wirklichkeit oder der wissenschaftlichen Rationalität entworfen – und knüpft damit an das ursprüngliche, antike wie moderne Ideal von Wissenschaft an. Zwei andere Motive der Popularität von Interdisziplinarität sind im weitesten Sinne als wissenschaftsextern anzusehen – als von außen an das Wissenschaftssystem herangetragen. Wis senschaftliches Wissen wird im Nutzungs- und Verwendungskontext gesehen, als Instrument und Mittel zur Lösung von Problemen. Ziel ist nicht reine Erkenntnis oder Wahrheit, sondern Verwertung und Nutzen. Ein Solutionismus und Instrumentalismus beherrscht diese Sicht auf Interdisziplinarität und prägt gesellschaftliche wie ökonomische Rechtfertigungsdiskurse. Von Modus-2 der Wissensproduktion ist die Rede, von Post-Normal-, Post-Paradigmatischer-, Techno- oder Trans-Science, und auch von Transdisziplinarität. Hier finden sich, zweitens, gesellschaftliche und ethische Motive. Interdisziplinarität wird als notwendig angesehen, um den großen gesellschaftlichen Herausforderungen (von denen seit mehr 20 Jahren, auch im EU-Rahmen, die Rede ist) zu begegnen. Globale Problemlagen bedürfen interdisziplinärer Wissensproduktion: Krieg und Frieden, | JAN CORNELIUS SCHMIDT | Der Begriff der Interdisziplinarität ist in aller Munde – in Wissenschaft und Politik, Wirtschaft und Gesellschaft . Doch kaum ein zukunftsrelevanter Begriff bleibt so unscharf, unbestimmt und ungeklärt . Eine Annäherung an ein Label, das Kreativität signalisiert und Innovation verspricht . Jan Cornelius Schmidt, Physiker und Philosoph, ist Professor für Wissenschaftsund Technikphilosophie an der Hochschule Darmstadt.

RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=