Forschung & Lehre 12/2023

Forschung & Lehre 12|23 906 FORSCHUNGSFELDER IM WANDEL Klima und Nachhaltigkeit, Energie- und Mobilitätswende, Biomedizin, Pandemien und Epidemien, Technikfolgenabschätzung und gesellschaftliche Technikgestaltung, Migration und andere. Verwandt sind, drittens, ökonomische Motive. Wissenschaft wird als Produktivkraft gesehen. Sie dient dazu, finanziellen Wohlstand und internationale Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Disziplinäre Wissenschaft sei allzu stark inner-akademisch orientiert – sieht man von einigen Wirtschafts- und Technikwissenschaften einmal ab. Im Hinblick auf ökonomische Verwend- und Verwertbarkeit sei sie schlicht defizitär. Um marktseitigen Anforderungen durch größere Praxisnähe und Anwendungsbezug gerecht zu werden, ist sie interdisziplinär fortzuentwickeln: Denn die Praxis selbst sei interdisziplinär. Gerade dieser Motivkomplex hat derzeit Konjunktur. Mehr noch: Ökonomisches Denken hat sich durch sukzessive Implementierung neoliberaler Governance- und Anreiz-Strukturen im deutschen Wissenschafts- und Universitätssystem breit etabliert. Wenn also von der Genese von neuen Forschungsfeldern die Rede ist – die aufgrund ihrer Neuheit (zunächst) interdisziplinär sind – ist zu fragen: Was ist Ziel und Zweck? Was wird angestrebt? Und was sind die vordergründigen Motive und hintergründigen Interessen? Recht besehen sollte der normative Gehalt offengelegt werden, um eine kritischkonstruktive Gestaltung von Forschungsfeldern zu ermöglichen. Diese Reflexivität knüpft an das ursprüngliche Ideal von Interdisziplinarität an. Nur so vermag die Dominanz einer blinden Instrumentalität und einer neoliberalen Eigenlogik verhindert werden – und das produktive Potenzial der Wissenschaft zur Selbstaufklärung genutzt werden: zur Verbesserung von Wissenschaft und Gesellschaft. Stark oder schwach? Mit der Explikation der Motive ist das Potenzial möglicher Differenzierungen noch nicht ausgeschöpft. Schließlich kann man nicht nur eine Pluralität von Motiven feststellen, sondern auch eine der Typen, die sich einmal stärker auf Extensionen (Begriffsumfang) und sodann, weitreichender, auf Intensionen (Begriffsinhalt) bezieht. Prägend für den heutigen Diskurs um Interdisziplinarität – und um unterschiedliche extensionale Verständnisweisen – war der Physiker und Romancier C. P. Snow. Sein berühmter Begriff der Zwei Kulturen ist seither in aller Munde. Die Zwei Kulturen, hier die Natur-, Technik- und Informationswissenschaften, dort die der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften, sind durch einen tiefen Graben getrennt. Für Snow blieb Interdisziplinarität ein frommer Wunsch. Unterschiedliche Sozialisationen und Habitualisierungen, verschiedene Denk-, Sprech- und Handlungsweisen machen Interdisziplinarität unmöglich. Gewiss, Snows These war so neu nicht; ähnliches findet sich bei Heinrich Rickert, Wilhelm Dilthey oder Heinrich v. Kleist. In Anlehnung an Snow kann man von großer oder starker Interdisziplinarität sprechen, wenn Forscherinnen und Forscher der beiden großen Wissenschaftskulturen zusammenarbeiten. Das ist der Sache nach schwierig und anspruchsvoll – der Begriff von Interdisziplinarität ist als stark und extensional eng anzusehen. Er ist extensional eng, weil die Kooperation des Informatikers oder der Physikerin mit einer Mathematikerin oder die eines Psychologen oder einer Philologin mit einem Philosophen herausfällt. Das ist demnach nicht interdisziplinär. Letztere Beispiele fallen aber unter die kleine oder schwache Interdisziplinarität, die als begriffsextensional weit gilt. Danach ist jede Kooperation über disziplinäre Grenzen hinaus interdisziplinär. Ein solcher Begriff ist freilich alles andere als gehaltvoll. Dennoch – oder gerade deshalb – ist er weit verbreitet in Wissenschaft und Politik. Typen Mit der Gegenüberstellung von starker und schwacher Interdisziplinarität ist noch keine semantische Klärung erfolgt: Der Begriffsinhalt, also die Intension, bleibt offen. Eine Pluralität zeigt sich auchhier. Ohne dass hier eine hinreichende Erörterung des für Interdisziplinarität konstitutiven Begriffs der Disziplinarität vorgenommen werden kann, lässt sich sagen: Interdisziplinarität hat es mit einer Grenz-Dialektik bezüglich Disziplinarität zu tun. Einerseits basiert Interdisziplinarität auf Disziplinarität und damit auf Grenzen der Disziplinen. Disziplinarität ist notwendige Bedingung für Interdisziplinarität. Andererseits zielt Interdisziplinarität auf Überschreitung disziplinärer Grenzen. Jedes Konzept von Interdisziplinarität muss also beides umfasssen: Bewahrung und Überwindung disziplinärer Grenzen. Diese beiden Anforderungen werden von vier Typen von Interdisziplinarität erfüllt, wobei sich mal der eine Typ mal der andere in der Genese von neuen Forschungsfeldern wiederfindet: Zunächst gibt es eine Interdisziplinarität des Gegenstands oder eine objektorientierte Interdisziplinarität. Forschungsgegenstände sind oft zu komplex, als dass eine Fachdisziplin hinreichend wäre. Der Zusammenhalt eines interdisziplinären Forschungsfeldes liegt dann in komplexen Objekten, wie z.B. Gehirn, biologische Evolution, Kosmos, Nanopartikel, Schmelzen des Packeises, nachhaltigkeitsorientierte Mobilitätsplanung einer Stadt, komplexe Produktionsanlage, militärische Infrastruktur usw. Ein solch objektorientiertes Verständnis von Interdisziplinarität ist weit verbreitet und dient als Ausgangspunkt vieler neuer Forschungsfelder. Sodann kann Interdisziplinarität methodo logisch verstanden werden, als methodenorientierte Interdisziplinarität. Der Forschungsprozess und die Wissensproduktion selbst sind interdisziplinär. Prominent sind heute Felder wie die Digital Humanities, welche Methoden verwenden, die aus der Informatik und den Naturwissenschaften stammen. Dieser Interdisziplinaritätstyp ist eng verbunden mit einer Methodenübertragung zwischen Disziplinen, wie auch in der Bionik, wo Bio-Lösungsverfahren zur Technikentwicklung verwendet werden; Ähnliches findet man in der Econophysics, in der physikalische Methoden auf finanzwissenschaftliche Fragen angewendet werden. In der Nachhaltigkeitsforschung, der Sozialen Ökologie und der Technikfolgenabschätzung werden gar neue integrative Methoden entwickelt, um gesellschaftliche Naturverhältnisse oder soziotechnische Systeme zu beschreiben und zu gestalten. Dieses Interdisziplinaritätsverständnis ist schon deutlich anspruchsvoller. Ferner wird mit dem Begriff der Interdisziplinarität auf Theorien, Konzep- »Interdisziplinarität gilt als ein temporäres Reparatur-Instrument. Darüber hinaus wird sie gelegentlich gar als Weg zur Einheit der Wirklichkeit entworfen.«

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