Forschung & Lehre 12/2023

12|23 Forschung & Lehre 911 FORSCHUNGSFELDER IM WANDEL braucht erhebliches Reflexionsvermögen, damit eine solche Forschung auch gut gelingen kann – abgesehen davon, ob diese dann auch mit wissenschaftlicher Reputation honoriert wird. Bevor interdisziplinäre Projekte starten, sollte man sich darüber klar werden, dass man nicht nur unterschiedliches Forschungswissen und unterschiedliche Forschungspraktiken, -theorien und -methoden zusammenbringt, sondern auch unterschiedliche Fachkulturen zusammenkommen. Es braucht eine Verständigung darüber, wie man Forschungsprozesse organisieren will, sowie gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung. Die Prozesse dauern im Allgemeinen länger und sind viel komplexer, als später der veröffentlichte Aufsatz zeigt. F&L: Wenn bereits die Verständigung darüber, was „interdisziplinär“ überhaupt bedeutet, schwierig ist: Wie lässt sich dann „erfolgreiche“ interdisziplinäre Forschung messen? Eva Barlösius: Üblicherweise durch Kriterien, die man relativ gut bibliometrisch erfassen kann wie eine gemeinsame Publikation. Das erscheint mir aber viel zu grob. Wir haben in unserer Forschung festgestellt, dass die Forschenden sehr viel in der Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen und Forschungsgebieten lernen, auch sehr viel über sich selbst. Jede Disziplin hat eine bestimmte Art und Weise, an ein Forschungsproblem heranzugehen. Ziel wäre es, im wissenschaftlichen Karriereprozess oder auch bei der Bewertung von interdisziplinären Projekten nicht nur den Output, sondern auch den interdisziplinären Forschungsprozess in die Bewertung miteinzubeziehen. F&L: Die meisten Fachzeitschriften sind disziplinär angelegt. Für interdisziplinäre Forschungsgruppen ist es dadurch nicht so einfach, ihre Forschungsergebnisse zu publizieren. Eva Barlösius: Das ist zweifellos richtig. Journals, in denen man interdisziplinär publizieren kann, gibt es nicht viele. Häufig gelten sie auch als nicht so hochrangig wie die disziplinären, was natürlich für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sehr wichtig ist. Hinzu kommt, dass das, was als publikationswürdig betrachtet wird, für einen Physiker oder eine Maschinenbauerin häufig sehr unterschiedlich ist. In den Technikwissenschaften ist ein Projekt erst abgeschlossen bzw. erfolgreich, wenn eine technische Umsetzung gelungen ist, währenddessen es in den naturwissenschaftlichen Grundlagendisziplinen primär darum geht, etwas zu veröffentlichen, was in einem früheren Stadium bereits relevant ist, also neues Forschungswissen zu generieren. F&L: Interdisziplinäre Forschung wird durch wissenschaftspolitisch motivierte Programme stark gefördert. Haben wir da ein Defizit? Eva Barlösius: Es ist wissenschaftspolitisch meines Erachtens vollkommen legitim, Interdisziplinarität besonders zu unterstützen, mit der Intention, wissenschaftliche Synthesen und die Überführung von Forschung in die praktische Anwendung zu fördern. Wir wissen, dass der Weg von immer tieferen Spezialisierungen in den Disziplinen zu technischen oder praktischen Anwendungen lang ist. Die disziplinäre Tiefenbohrung ist genauso wichtig wie interdisziplinäre Forschung. Sie sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler merken selbst, dass sie in der interdisziplinären Zusammenarbeit vieles lernen; zum Beispiel, dass manche ihrer Probleme andere Disziplinen leichter lösen können. Sie gelangen in ihrem eigenen Forschungsprozess an Grenzen, wo es hilfreich ist, die Fertigkeiten und Kenntnisse anderer mit zu nutzen. F&L: Um bessere Voraussetzungen für Interdisziplinarität zu schaffen, ist es sinnvoll bzw. notwendig, bereits im Studium die Grundlagen dafür zu vermitteln. Wie könnte das funktionieren? Eva Barlösius: Ich leite selbst einen interdisziplinären Studiengang, in dem die Studierenden aus der Bandbreite der Geistes- und Sozialwissenschaften kommen – bis teilweise in die Informationswissenschaft hinein. Die Studierenden lernen, in Übungen zu reflektieren, welche Sozialisation sie in ihrem Studium (soziologisch, ethnologisch etc.) erfahren haben: Wie nähern sie sich den Gegenständen, wie organisieren sie ihre Arbeitsprozesse usw.? Auf diesem Weg vergegenwärtigen sie sich, dass sie nicht nur Inhalte oder Methoden gelernt, sondern sich einen bestimmten wissenschaftlichen Denkstil, eine bestimmte Haltung angeeignet haben. F&L: Wieviel Interdisziplinarität ist im Bachelor-/Master-Studium sinnvoll, wieviel Disziplinarität notwendig? Eva Barlösius: Das ist sehr umstritten. Meines Erachtens sollten die Studierenden die Chance erhalten, sich in einem bestimmten Bereich beziehungsweise Fach relativ sicher (methodisch, theoretisch, instrumentell) bewegen zu können. Wenn Masterstudiengänge auf bestimmte interdisziplinäre Forschungsfelder zulaufen, kann ein interdisziplinärer Studiengang hilfreich sein. In einem interdisziplinären Studiengang eignen sich die Studierenden Fertigkeiten an, mit Differenz umzugehen. Diese Kompetenzen sind nicht nur in der Wissenschaft nützlich, sondern auch in einer pluralen und heterogenen Gesellschaft. Die Fragen stellte Vera Müller. »Die disziplinäre Tiefenbohrung ist genauso wichtig wie interdisziplinäre Forschung. Sie sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden.« »Die Prozesse dauern im Allgemeinen länger und sind viel komplexer, als später der veröffentlichte Aufsatz zeigt.« Führungs-, Karriere und Persönlichkeitscoaching Thomas Römer www.team-roemer.de/res in Wissenschaft, Forschung undLehre Führungscoaching Karriereplanung Thomas Römer www.team-roemer.de/res Anzeige

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