Forschung & Lehre 12/2023

Forschung & Lehre 12|23 914 WETTBEWERB Multipler Wettbewerb an Universitäten Ursachen und Auswirkungen Das Hochschulsystem in Deutschland ist zunehmend durch eine Multiplizierung des Wettbewerbs gekennzeichnet. Die Verknüpfung unterschiedlicher Akteure, die um unterschiedliche knappe Güter im Wettbewerb stehen, führt zu weitreichenden Folgen, die auch die interne Governance von Universitäten betreffen. Knappe Wettbewerbsgüter sind etwa Aufmerksamkeit, Reputation, Drittmittel, Rankingpositionen, Publikationen, Studierende, Personal (aus Sicht der Hochschulen) und Stellen (aus Sicht der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler). Zentrale Wettbewerbsakteure sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Universitäten und der Staat. Auf der Ebene von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern findet eine Vervielfältigung sowie Vorverlagerung des Wettbewerbs im Karriereverlauf statt. Universitäten transformieren sich in organisationale Wettbewerbsakteure. Schließlich stellt der Staat in der Hochschul- und Wissenschaftspolitik weit mehr als die Rahmenbedingungen für den Wettbewerb von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Universitäten zur Verfügung, sondern er ist selbst ein im Wettbewerb stehender Akteur, der den Wettbewerb im Hochschulsystem aktiv vorantreibt. Wissenschaftlicher Reputationswettbewerb Auf der Ebene individueller Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist der Wettbewerb bereits umfassend erforscht worden. In der Wissenschaftsgeschichte, -soziologie und -ökonomie gilt der Wettbewerb um neue Erkenntnisse und die damit verbundene Reputation als zentral für die Wissenschaftsentwicklung. Nur der von außen ungesteuerte wissenschaftliche Wettbewerb kann Durchbrüche in der Wissenschaft hervorbringen, so die übergreifende, wenn auch etwas zugespitzte Einschätzung. Vor diesem Hintergrund zeigen neuere Analysen, dass der wissenschaftliche Reputationswettbewerb deutlichen Veränderungen unterworfen ist. So findet auf der individuellen Ebene eine Vervielfältigung von Wettbewerbsgütern statt. Galt bis vor wenigen Jahrzehnten noch „publish or perish“ als Imperativ des Wissenschaftssystems, ist dieser Imperativ nicht mehr aussagekräftig, denn es geht zunehmend nicht mehr um Publikationen an sich, wenn man an die nicht mehr überschaubare Anzahl an Sammelbänden in den Geistes- und Sozialwissenschaften denkt, sondern um spezifische Publikationen, insbesondere hoch gerankte internationale Zeitschriftenartikel. Hinzu kommen weitere Wettbewerbsdimensionen wie Zitationen sowie prestigeträchtige Drittmittel, Auslandsaufenthalte und Kooperationen. Diese multiplen Wettbewerbsdimensionen lassen sich, unterstützt von standardisierten Lebensläufen, Datenbanken und Plattformen, von den Akteuren selbst sowie von externen Einrichtungen, zum Beispiel von Berufungskommissionen oder Förderorganisationen, erfassen und miteinander vergleichen. Sie erhöhen insbesondere den Druck bei den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die noch über keine unbefristete Professur verfügen und die sich glaubhaft als individuell erfolgreiche Wettbewerbsakteure – und nicht als Teil einer überindividuellen Forschungsoder Denktradition – darstellen müssen. In diesem Sinne wird der Wettbewerb im Karriereverlauf vorverlagert. So wird auf der Postdoc-Ebene ein individuelles Forschungsprofil erwartet, das idealerweise nicht nur durch Publikationen, sondern auch durch Drittmittel geprägt ist – und zwar unabhängig von der wissenschaftlichen Disziplin. Waren Forschungsdrittmittel lange Zeit insbesondere in den Naturwissenschaften von Bedeutung, und dort vor allem auf der Ebene von Professorinnen und Professoren, ist der Drittmittelwettbewerb heutzutage generisch. Neuere Untersuchungen zeigen, dass in allen Fächern DFG-Drittmittel als Nachweis wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit gelten, und zwar bereits auf der Postdoc-Ebene. Ebenso ist in einem als besonders leistungsfähig eingeschätzten Segment der Wettbewerb um ERCStarting-Grants entbrannt, die nicht immer erforderlich sind, um qualitativ hochwertige Forschung zu betreiben, die aber fächerübergreifend als „Aufmerksamkeitsfänger“ (Luhmann) fungieren und die Wahrscheinlichkeit des Rufes auf eine Professur deutlich erhöhen. Dies gilt auch für aus dem Ausland kommende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, was ebenfalls unterstreicht, dass der Wettbewerb im Hochschulsystem nur als dynamisch und im Wandel stehend zu betrachten ist. | GEORG KRÜCKEN | Die zunehmende Transformation der Universitäten in wettbewerbliche Akteure führt zu Dynamiken und Folgewirkungen, die auch die interne Governance von Universitäten betreffen . Eine kritische Analyse . Georg Krücken ist Professor für Hochschulforschung an der Universität Kassel und Sprecher des Vorstands des International Center for Higher Education Research (INCHER). AUTOR Foto: Sonja Rode/Lichtfang.net

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