Forschung & Lehre 12/2023

Forschung & Lehre 12|23 930 WISSENSCHAFTSGESCHICHTE Abgefallener Pfarrerssohn Vor 120 Jahren starb der berühmte Altertumswissenschaftler Theodor Mommsen Theodor Mommsen wurde am 30. November 1817 als Sohn eines evangelischen Pfarrers in Garding (Schleswig) geboren. Aber der kirchliche Traditionalismus forderte seine Kritik heraus. Das Pfarrhaus wurde zum Ort der Apostasie. Der Vater eröffnete Mommsen jedoch eine neue Bildungswelt, in der die klassische Antike und die zeitgenössische Literatur gleichberechtigt neben die überlieferten Lehren der lutherischen Christenheit traten. Die Emanzipation von der Religion schwächte keineswegs das Konfessionsbewusstsein. Der moderne liberale Protestantismus, der Bildung als säkulare Religion hochschätzte, prägte die weitere Biographie des abgefallenen Pfarrerssohns. Die Freiheit eines evangelischen Christenmenschen sollte auch im Diesseits, im protestantischen Staate und im freien Gehorsam des Bürgers verwirklicht werden. Zugleich verschärfte eine national-romantische Verklärung Luthers seine antikatholischen Ressentiments. So agitierte Mommsen noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen die Berufung des katholischen Historikers Martin Spahn auf einen konfessionell gebundenen Lehrstuhl an der Universität Straßburg. Studium und Promotion Nach dem Besuch des Königlichen Christianeums, einer Eliteschule in Altona, studierte Mommsen Jura an der Universität Kiel (1838-43). Sein Hauptfach war Römisches Recht, doch den größten Einfluss auf ihn übte der nur vier Jahre ältere Klassische Philologe Otto Jahn aus, der die moderne Altertumswissenschaft repräsentierte. Die Alten Sprachen wurden nicht mehr – wie früher – als Teil einer propädeutischen Ausbildung gelehrt, sondern waren die Grundlage einer umfassenden Wissenschaft vom griechischen und römischen Altertum, die den Juristen Mommsen so sehr faszinierte, dass er sie zu seiner Lebensaufgabe erwählte. Nach einem glänzenden Examen und einer erfolgreichen Promotion über ein Thema aus dem römischen Recht ermöglichte ihm ein Stipendium des dänischen Königs eine Reise nach Italien (1844-47). Dort legte er den Grundstein für eine umfassende Sammlung lateinischer Inschriften, das Corpus Inscriptionum Latinarum. Exil und Nobelpreis für Literatur Während der Revolution von 1848 setzte sich Mommsen mit der Feder für ein geeintes und liberales Deutschland ein. Im Herbst desselben Jahres gab er jedoch seine Tätigkeit als Journalist in Rendsburg auf, um eine außerordentliche Professur für Römisches Recht in Leipzig anzutreten. Dort rief er mit anderen Professoren die Bürger zum Protest auf. Das Engagement für die Ziele der Revolution brachte ihm in erster Instanz eine neunmonatige Gefängnisstrafe, die allerdings der Berufung nicht standhielt. Gleichwohl wurde Mommsen im April 1851 mit Hilfe des Disziplinarrechts aus seiner Professur entfernt. Zuflucht fand er in der Schweiz: 1852 wurde er auf eine ordentliche Professur für Rechtsgeschichte in Zürich berufen. Das kleinstädtische Milieu und die Sprödigkeit der Einheimischen schreckten den politischen Flüchtling ab. Doch die sichere Existenz erlaubte ihm, seine Forschungen ungestört fortzusetzen – und an der „Römischen Geschichte“ weiterzuarbeiten, die schließlich zwischen 1854 und 1856 in drei Bänden erschien und für die er 1902 als erster Deutscher den Nobelpreis für Literatur erhielt. In diesem Werk wird die politische Geschichte Roms von den Anfängen bis zum Sieg Caesars über seine Widersacher im Jahr 46 v. Chr. dargestellt. Eingeschaltet sind Abschnitte, in denen Mommsen über Verfassung, Religion, Ackerbau, Kunst und Erziehung verhandelt und herrliche Porträts lateinischer Autoren zeichnet. Im Zentrum steht indes die Krise der späten Republik. Eingehend beschrieb Mommsen die Abfolge der gescheiterten Reformversuche und die Stationen der sozialen und politischen Desintegration. Der unaufhaltsame Niedergang der durch den Senat herrschenden Oligarchie wird für Mommsen erst durch Caesar überwunden, der als Volksgeneral und Demokratenkönig der maroden res publica nochmals unsterblichen Ruhm verleiht. Das Werk war mit dem Herzblut des liberalen Achtundvierzigers geschrieben, der das Scheitern der Revolution historiographisch kompensierte und nun einer die Nation einigenden Machtpolitik das Wort redete. So vermischt die Darstellung die geschichtliche und die zeitI STEFAN REBENICH I Theodor Mommsen gilt als einer der bedeutendsten Altertumswissenschaftler der Neuzeit . Aus seiner Feder stammt das Werk „Römische Geschichte“, für das er 1902 den Nobelpreis für Literatur bekam . Zudem setzte sich der streitbare Gelehrte für die politische Verantwortung von Intellektuellen ein . Er starb am 1 . November 1903 . Stefan Rebenich ist Professor für Alte Geschichte und Rezeptionsgeschichte der Antike an der Universität Bern. AUTOR

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