Forschung & Lehre 12/2023

931 12|23 Forschung & Lehre WISSENSCHAFTSGESCHICHTE genössische Perspektive ständig. Mommsen schrieb sein Werk cum ira et studio, und er vergegenwärtigte den historischen Stoff. Die eigene Betroffenheit und Verletztheit machten aus der Geschichte des republikanischen Roms ein Paradigma der historiographie engagée. Das berühmte Werk ist allerdings ein Torso geblieben. Die Alleinherrschaft des Diktators Caesar ist Teil einer anderen Geschichte, die Mommsen erzählen wollte, aber nie erzählt hat. Der vierte Band, der dem römischen Prinzipat gewidmet sein sollte, hat er trotz immer wieder aufflackernder Gerüchte nicht geschrieben. Stattdessen verfasste Mommsen 1885 einen fünften Band, der die Geschichte der römischen Provinzen bis auf Diokletian behandelte und zur Grundlage der althistorischen Regionalgeschichtsschreibung wurde. Rückkehr nach Deutschland Bereits 1854 war Mommsen aus Zürich nach Deutschland zurückgekehrt, an die Universität Breslau, an der er sich allerdings ebenfalls nicht heimisch fühlte. Im selben Jahr heiratete er Marie Reimer, die Tochter seines Leipziger Verlegers, mit der er insgesamt 16 Kinder hatte. 1857 wurde er auf eine Forschungsprofessur an der Berliner Akademie als Herausgeber des Corpus Inscriptionum Latinarumberufen. Seit 1861 war er zudem Ordinarius für Römische Altertumskunde an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. In Berlin, insbesondere durch seine Arbeit an der Akademie, stellte Mommsen die Altertumswissenschaften auf ein neues Fundament. Er ordnete die „Archive der Vergangenheit“, indem er eine neue Methode: die Echtheitskritik, und ein neues Programm: das Totalitätsideal, zusammenführte, um die antike, insbesondere die römische Geschichte zu rekonstruieren. Nicht mehr die Textzeugen allein, sondern das gesamte Erbe der Alten Welt wurde nun in den Blick genommen und durch Gemeinschaftsunternehmen, die Mommsen initiierte und förderte, erschlossen. Der Altertumswissenschaftler war nicht nur genialer Forscher, sondern auch ein glänzender Organisator, der erfolgreich das Prinzip der fabrikmäßigen Arbeitsteilung umsetzte und die „Großwissenschaft“ erfand. Ungebrochen war sein Vertrauen in den wissenschaftlichen Fortschritt. So entstanden an der Berliner Akademie der Wissenschaften langfristig angelegte Editionsprojekte, die zum Teil bis heute andauern. In seiner Berliner Zeit traten an die Stelle der historiographischen Erzählung die altertumswissenschaftliche Spezialforschung und die juristische Systematisierung. Mommsens wissenschaftliches Hauptwerk ist sein „Römisches Staatsrecht“ in drei Bänden (1887/88). Hierin konstruierte er das für die römische Vergangenheit maßgebliche Staatsrecht – aus dem Geist des 19. Jahrhunderts. Dabei musste er eine breite Überlieferung literarischer wie nichtliterarischer Herkunft heranziehen, sie nach den Regeln des hermeneutischen Verstehens der Klassischen Philologie interpretieren und deren „staatsrechtliche“ Aussagen mit Hilfe streng juristischer Begriffe systematisieren. Nur so vermochte er etwas vorzulegen, was es im Altertum nicht gab: ein römisches Staatsrecht. Die Auseinandersetzung mit dem Produkt der juristischen Methodenlehre des 19. Jahrhunderts dauert bis heute an. Die Erinnerung an Theodor Mommsen wäre unvollständig, würde man nicht auf den Politiker hinweisen. Wissenschaft und Politik waren für den streitbaren Liberalen untrennbar. „Der schlimmste aller Fehler“ bestehe darin, „den Rock des Bürgers“ auszuziehen, „um den gelehrten Schlafrock nicht zu kompromittieren“. Die mit der Reichsgründung eingeleitete Ablösung des nationalen Einheitsgedankens vom liberalen Freiheitsideal empfand Mommsen über dreißig Jahre hinweg als schmerzliche politische Offenbarung. Noch im hohen Alter trat er für die deutsch-englische Freundschaft ein und forderte ein Bündnis zwischen Linksliberalen und Sozialdemokraten. Bis an sein Lebensende glaubte er an die politische Verantwortung der Intellektuellen und focht gegen den Antisemitismus im Kaiserreich. Foto: mauritius images / imagebroker »Bis an sein Lebensende glaubte er an die politische Verantwortung der Intellektuellen und focht gegen den Antisemitismus im Kaiserreich.« Theodor Mommsen auf einer digitalen Reproduktion einer Originalvorlage aus dem 19. Jahrhundert.

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