Forschung & Lehre 12/2023

Forschung & Lehre 12|23 932 REL IGION Weihnachten übersetzen? Über den Umgang mit religiösen Traditionen in einer pluralen Gesellschaft Weihnachten übersetzen? Geht das? Gemeint ist nicht einfach, den Begriff in einer anderen Sprache wiederzugeben; dass das möglich ist, zeigt eine ganze Liste von angebotenen Übersetzungen des Wunsches „Frohe Weihnachten“ in verschiedenen Sprachen im Internet – von Afrikaans („Geseende Kerfees“) bis Zulu („Sinifesela Ukhisimusi Omuhle!“). Aber wie steht es mit dem Inhalt, dem christlichen Gehalt von Weihnachten? Lässt der sich so übersetzen, dass auch „religiös Unmusikalische“ oder Menschen anderer Religionen etwas damit anfangen können? Erst dann könnte Weihnachten als christlicher Beitrag zum Gemeinwohl unserer Gesellschaft verstanden werden und im eigentlichen Sinn „Weihnachten für alle“ sein. Gibt es möglicherweise bereits erfolgreiche Übersetzungen des christlichen Weihnachtens in die allgemeine Kultur hinein? Immerhin gilt Weihnachten auch in weniger bis gar nicht religiösen Kreisen als „Fest der Liebe und des Friedens“, „Fest der Familie“ oder „Fest der Geschenke“ sowie als „Zeit der Besinnlichkeit und des Mitgefühls“. In all diesen populären und tendenziell säkularen Verständnissen von Weihnachten lässt sich noch der christliche Tiefensinn wahrnehmen – oder zumindest freilegen: Gott wird aus Liebe zu uns Menschen selber Mensch, damit wir Menschen menschlicher werden. Gott schenkt sich selbst, damit wir Menschen als immer schon Beschenkte auch andere beschenken – und uns darauf besinnen, dass die wirklich wichtigen Dinge im Leben nicht käuflich sind. Gott kommt in der Armut einer Obdachlosenfamilie zur Welt, damit wir uns auf die Seite der Armen, Schwachen und Heimatlosen stellen. Wird aus Säkularisierung Nivellierung? Daneben gibt es allerdings auch eine Säkularisierung von Weihnachten, die nicht von der Übersetzung, sondern der Nivellierung der christlichen Gehalte lebt. Das gilt nicht nur im Hinblick auf die ungebremste Kommerzialisierung und Partyisierung von Weihnachten, sondern leider auch hinsichtlich des Umgangs mit Weihnachten vor dem Hintergrund unseres religiös-weltanschaulichen Pluralismus. So heißt der jahreszeitliche Markt in Berlin-Kreuzberg nicht mehr „Weihnachtsmarkt“, sondern „Wintermarkt“, weil – so die Sprecherin des Marktes – „alle Bevölkerungsgruppen“ dort „willkommen“ sein sollen. Und in einer multireligiösen Berliner Kita werden statt Weihnachtsliedern Winterlieder gesungen und statt einem Krippenspiel „Rollen- und Bewegungsspiele“ mit den Kindern gemacht. Der religiöse Hintergrund von Weihnachten bleibt bewusst ausgespart. Das erinnert daran, dass in Teilen der DDR Weihnachtsengel als „geflügelte Jahresendfiguren“ bezeichnet wurden. An der Frage des öffentlichen Umgangs mit Weihnachten konkretisiert sich exemplarisch die Frage nach dem Umgang mit Religion in unserer immer pluraleren Gesellschaft: Soll das religiöse Erbe zunehmend in dem Sinn säkularisiert werden, dass es nivelliert und aus der Öffentlichkeit verdrängt wird? Oder sollen religiöse Traditionen und deren humanisierende Gehalte weiterhin eingebracht werden, zum Wohl aller und für alle? Sinnpotenzial noch nicht ausgeschöpft Der früher eher religionskritische Philosoph Jürgen Habermas hat in den vergangenen Jahren immer stärker dafür plädiert, die Sinnpotenziale der religiösen Traditionen wertzuschätzen, weil sie auch „religiös Unmusikalischen“ wie ihm selbst etwas zu sagen haben. Und er hat die Überzeugung gewonnen, dass diese Sinnpotenziale noch nicht ausgeschöpft sind. Dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Nächstenliebe und Fürsorge für die Schwachen grundlegende Werte sind, ist – nicht nur, aber zu einem guten Teil – die Folge von erfolgreichen Übersetzungen christlicher Vorstellungen in allgemeine Werte. Dabei sind nach Habermas’ Sicht die christlichen Ideen nicht lediglich die Leiter, die man nicht mehr braucht, wenn man ein gutes Werteniveau erklommen hat. Sie enthalten vielmehr nach wie vor anregende und differenzierte Vorstellungen vom guten Leben, auf die unsere Gesellschaft auf ihrer Suche nach mehr Menschlichkeit und bei der Lösung aktueller ethischer Problemstellungen nicht leicht verzichtenkann. | MANFRED L. PIRNER | Der Sinngehalt des christlichen Weihnachtens gerät in unserer säkularen pluralistischen Gesellschaft zunehmend in den Hintergrund . Warum es wichtig ist, christliche Ideen, aber auch Überzeugungen anderer Religionen in den Diskursraum Öffentlichkeit einzubringen . Professor Manfred L . Pirner ist Inhaber des Lehrstuhls für Religionspädagogik und Direktor der Forschungsstelle für öffentliche Religionspädagogik an der Friedrich-AlexanderUniversität ErlangenNürnberg. AUTOR

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